tharoor171_PUNIT PARANJPEAFP via Getty Images_population india PUNIT PARANJPE/AFP via Getty Images

Gefahren für den Aufstieg Indiens

MUMBAI – Vor einigen Jahrzehnten war Indien ein relativ unbedeutender Akteur auf der Weltbühne. Trotz der Größe des Landes und seiner riesigen Bevölkerung hatte Indien mit einer Entwicklung zu kämpfen, die abwertend als „Hindu-Wachstumsrate” bezeichnet wurde. Von 1947, dem Jahr als Indien seine Unabhängigkeit erlangte, bis in die 1980er Jahre wuchs das BIP jährlich nur um bescheidene 4 Prozent oder pro Kopf um 2 Prozent.

Wie haben sich die Dinge doch geändert. Mit einer jährlichen BIP-Wachstumsrate von durchschnittlich 6,2 Prozent seit 2006 hat sich Indiens Wirtschaft zu einer der am schnellsten wachsenden der Welt entwickelt. Aber kann Indien diese beeindruckende Leistung weiter erbringen?

Ein Grund, warum die unabhängige indische Wirtschaft so lange brauchte, um rasches Wachstum zu erzielen, besteht darin, dass die Regierung die heimische Wirtschaftstätigkeit jahrzehntelang massiv regulierte. Der internationale Handel war strikten Kontrollen unterworfen und Auslandsinvestitionen wurden unterbunden. Doch 1991 zwang eine schwere Wirtschaftskrise die indische Regierung zu Reformen, die den Weg für eine rasche Ausweitung des Handels ebneten. Indiens Anteil an den weltweiten Exporten stieg von 0,5 Prozent im Jahr 1991 auf 2,6 Prozent im Jahr 2022. Der Anteil am Handel im Bereich gewerblicher Dienstleistungen erreichte noch höhere Werte und das trug zu einem kräftigen Einkommensanstieg bei.

Auch wenn sich der wirtschaftliche Aufstieg Indiens beeindruckend präsentierte, stand er doch über Jahrzehnte hinweg im Schatten Chinas. Im Jahr 2021 allerdings wies Indien zum ersten Mal ein höheres Wachstum als China auf. Und der Internationale Währungsfonds geht davon aus, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird, wobei Indien in den Jahren 2023 und 2024 ein Wachstum von 6,3 Prozent erreichen wird. Im Vergleich dazu liegen die entsprechenden Werte für China bei 5  beziehungsweise 4,2 Prozent. Auch das indische Pro-Kopf-Einkommen steigt schneller, obwohl Indien mit etwa 1,42 Milliarden Einwohnern China in dieser Hinsicht überholt hat. Mittlerweile ist Indien nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Welt, sondern, gemessen an aktuellen Wechselkursen, auch die fünftgrößte Volkswirtschaft, und die drittgrößte, wenn es um Kaufkraftparität geht.

Freilich haben die indische Politik und auch die Zentralbanker seit den 1990er Jahren noch mehr getan. Die Telekommunikation wurde grundlegend modernisiert, wie alle bestätigen können, die sich an die Verhältnisse in Indien vor 2003 erinnern, wenn man telefonieren wollte. Das Bankensystem wurde unter dem ehemaligen Gouverneur der Reserve Bank of India, Raghuram G. Rajan, stabilisiert und gestärkt.

In jüngerer Vergangenheit hat die Regierung unter Premierminister Narendra Modi die Ausgaben für die Instandhaltung und Verbesserung der Infrastruktur erhöht. Der Zugang zu Elektrizität wurde auf 98 Prozent der Haushalte ausgeweitet und staatliche Geldleistungen haben die Situation der Ärmsten im Land verbessert. Unterdessen wurde die Struktur des Steuersystems umgestaltet (um einige der Ineffizienzen zu verringern, die sich aus den unterschiedlichen Umsatzsteuersätzen der einzelnen Bundesstaaten ergeben), und das Konkursrecht wurde optimiert.

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Indiens wirtschaftlicher Erfolg der jüngeren Vergangenheit hat das internationale Ansehen des Landes gestärkt und sein Selbstvertrauen gefestigt. Nun, da geopolitische Verschiebungen, insbesondere die Rivalität zwischen den USA und China, Indiens Position weiter stärken, sagt man mancherorts voraus, dass das Land durchaus die nächste globale wirtschaftliche Supermacht werden könnte.

Dazu sind jedoch weitere Wirtschaftsreformen erforderlich. Allerdings scheint sich Modis Regierung in besorgniserregender Weise von einigen der Grundsätze und Maßnahmen zu verabschieden, die Indiens Aufstieg vorangetrieben haben. Zunächst einmal hat die Regierung eine Initiative unter dem Titel „Make in India” angekündigt, im Rahmen derer mit Subventionen, Zöllen und anderen Maßnahmen Unternehmen dazu ermutigt werden sollen, Produkte im eigenen Land zu entwickeln, herzustellen und zusammenzusetzen, obwohl gerade die Liberalisierung des Handelsregimes das Wachstum Indiens in den letzten Jahrzehnten ermöglicht hat.

Da indische Großunternehmen zudem beträchtliche staatliche Unterstützung erhalten, genießen sie einen noch stärkeren Vorteil gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die darum ringen, sich in den Regularien und Vorschriften für wirtschaftliche Aktivitäten zurechtzufinden. Die Regierung Modi scheint nicht zu verstehen, dass eine solide Gründerkultur und dynamische KMU für ein gesundes Wirtschaftswachstum unerlässlich sind.

Auch ist es nicht hilfreich, dass die Privatisierung ineffizienter Staatsbetriebe nur langsam vorankommt. Und hinsichtlich des Umgangs mit staatlichen Stellen oder Gerichten sind lange  bürokratische Wartezeiten immer noch die Norm.

An der politischen Front scheint sich die Regierung Modi von den in der indischen Verfassung verankerten Grundsätzen des Säkularismus zugunsten des Hindu-Chauvinismus zu verabschieden. Modis Bharatiya Janata Party zeigt kaum Toleranz gegenüber Nicht-Hindus, insbesondere gegenüber Muslimen. In dieser Hinsicht ist die Regierung mit Vorwürfen der Diskriminierung konfrontiert. Auch die Unterdrückung der Pressefreiheit und die Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht geben Anlass zu ernsthafter Sorge.

Aufgrund seiner großen und relativ jungen Bevölkerung könnte Indien in den kommenden Jahren von einer beträchtlichen „demografischen Dividende“ profitieren. Doch um diese optimal zu nutzen, gilt es für die Regierung sicherzustellen, dass junge Menschen Zugang zu hochwertiger Bildung und attraktiven Arbeitsplätzen haben. Allerdings bestehen gute Gründe, daran zu zweifeln, dass sie dazu in der Lage ist. Schon jetzt hat Indien mit hoher Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen. Obwohl die Einschulungsraten gestiegen sind, ist die Unterrichtsqualität nach wie vor schlecht, was sich in einer hohen Analphabetenrate unter Erwachsenen widerspiegelt. Die Qualifikationen von Arbeitskräften müssen dringend verbessert werden.

Ein rasch wachsendes, demokratisches Indien würde nicht nur den Menschen in Indien, sondern der ganzen Welt zugute kommen. Doch der derzeitige Weg der Regierung führt in die Sackgasse. Aus dieser muss die indische Führung wieder herausfinden und sich auf die Stärkung der allgemeinen und beruflichen Bildung, die Verschlankung der Bürokratie und die Vereinheitlichung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen konzentrieren. Wenn das gelingt, könnte das 21. Jahrhundert Indien gehören.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/7Vau5ksde